Vor genau einem Monat, am Montag, dem 30. August 2021, ermordet ein Polizei Nzoy, einen 37-jährigen schwarzen Schweizer, mitten im Bahnhof von Morges (VD). Drei Kugeln im Körper. Eine schreckliche Tragödie, die von der Polizei als „verhältnismäßige“ Reaktion von vier Polizeibeamten auf einen psychisch labilen Mann dargestellt wurde.
Um dieses Drama nicht zu einer bloßen Zeitungsnachricht zu degradieren, publizieren wir einen Monat später, eine Zusammenfassung der Ereignisse und Reaktionen, die seitdem stattgefunden haben. Seit es die Polizei gibt, gibt es Polizeimorde. Wir möchten dazu beitragen, dass es kein Vergessen und kein Vergeben gibt.
Zusammenfassung der Ereignisse
- 30. August 2021
Gegen 18 Uhr machten sich Menschen im Bahnhof Morges Sorgen über das Verhalten eines Mannes auf dem Gleis 4. Mit der Befürchtung, der Mann könnte sich selbst verletzen, riefen sie die Polizei. Zwei Streifenwagen und vier Beamte fuhren zum Tatort. Als die Polizisten eintrafen, ging Nzoy, der offensichtlich bereits eine Menge schwieriger Emotionen durchlebte, schnell auf die Polizisten zu. Einer der Beamten eröffnete das Feuer und schoss ihm zweimal in den Körper, und dann noch einmal, als Nzoy, obwohl er schwer verletzt war, versuchte, auf die Beine zu kommen. Nzoy starb kurz darauf. Die Polizei behauptet später, Nzoy sei psychisch krank und habe versucht, sie mit einem Messer anzugreifen.
- 2. September 2021
Der Waadtländer Staatsanwalt Eric Cottier eröffnet eine Ermittlung wegen Mordes gegen den Polizist der geschossen hat. Wie der Staatsanwalt es selbst mehrmals betont, ist dies ein Routineverfahren, wenn die Polizei einen Todesfall verursacht. Es besteht kein Zweifel, dass die Untersuchung in Kürze abgeschlossen sein wird ohne Konsequenten für den Mörder.
- 3. September 2021
Une manifestation „contre les crimes policiers“ à lieu à la gare de Morges. Environ 150 personnes expriment leur colère dans la rueAm Bahnhof von Morges findet eine Demonstration „gegen Polizeiverbrechen“ statt. Etwa 150 Menschen trägen ihre Wut und Trauer auf die Straße.
- Mitte September 2021
Die Familie von Nzoy erstattet Anzeige gegen die Polizei.
- 21. September 2021
In der gesamten Deutschschweiz finden mehrere Trauermärsche und Kundgebungen in Gedenken an Nzoy und all die schwarten Menschen und People of Color (POC), die in der Schweiz durch Staatliche Gewalt verletzte und getötet wurden. In Zürich, Bern, Basel und Luzern finden Kundgebungen mit fünfzig bis mehreren hundert Personen statt.
25. September 2021
An der Demonstration für das Recht auf Protest in Lausanne wurde in einer Rede der vierte rassistisch motivierte Mord durch die Waadtländer Polizei seit 2016 angeprangert, mit einem Rückblick auf den Mord an Nzoy am Bahnhof von Morges vor einem Monat.
- 2. Oktober 2021
Zum Abschluss der Demonstration „freies und würdiges Leben für Geflüchtete“ in Bern besetzten rund 50 Menschen einen Platz im Park der Kleine Schanze, um gegen rassistische Polizeigewalt in der Schweiz zu protestieren. Es werden Workshops organisiert, zum Beispiel zum Thema „Racial Profiling“. Die Besetzung dauert das ganze Wochenende an.
Die erste Reaktion der Polizei : lügen
Die erste Reaktion der Polizei auf den Mord war, zu lügen. In einer am selben Tag herausgegebenen Pressemitteilung erklärte die Polizei, dass ihre Beamten nach der Neutralisierung der Bedrohung, Nzoy direkt erste Hilfe leisteten, es aber nicht schafften, ihn am Leben zu erhalten. Mehrere Zeugenvideos zeigen jedoch, wie die Polizei dem sterbenden Mann Handschellen anlegt, ihn durchsucht und ihn dann fünf Minuten lang am Boden liegen lässt. Es war schließlich ein zufällig vorbeikommender Krankenplfeger, der ihm eine Herzmassage und erste Hilfe leistete, bis der Krankenwagen eintraf, aber leider zu spät.
Angesichts der Beweise korrigierte die Polizei ihre Lüge in einem zweiten Kommuniqué, ohne sich zu erklären oder zu entschuldigen. Die Polizei entschuldigt sich nie.
Diese Lüge führt dazu, dass wir alle Informationen, die nur von der Polizei geliefert werden, als bedingte Angaben betrachten. Dazu gehört die Tatsache, dass Nzoy angeblich mit einem Messer bewaffnet war, als er die Polizei angriff, und dass er an einer psychischen Erkrankung litt. Unserer Ansicht nach ist die Polizei keine hinreichend zuverlässige Quelle, um diese Angaben als wahr zu akzeptieren, solange sie nicht von anderen Quellen bestätigt wurden. Die psychologische Betreuung von Nzoy durch Fachleute wurde später von Angehörigen bestätigt.
Ein erster kritischer Text, der am 1. September veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass nicht das Verhalten von Nzoy zu seinem Tod geführt hat, sondern nur das Eingreifen der Polizei in der gegebenen Situation. Tatsächlich waren die Ankunft und die Reaktion der Polizeibeamten die Ursache für den Tod von Nzoy und nicht die Tatsache, dass er psychisch labil war oder ein Messer hatte, wie die Medien und die Polizei behaupten. Wenn die Polizei mit einer Person in Kontakt kommt, die emotional instabil ist und sich nicht rational verhält, endet die Situation oft mit dem Tod dieser Person, vor allem, wenn es sich um eine nicht-weiße Person handelt. Die Polizei ist eine Institution, die auf Kontrolle und Repression basiert, nicht auf Empathie und Fürsorge. Eine Tatsache, an der keine noch so große Polizeireform jemals etwas ändern wird.
Als Antwort auf eine problematische Situation werden daher Kontrolle und Repression gewählt, wie es an diesem Augustabend im Bahnhof von Morges der Fall war.
Eine Aussage, die uns ermutigt, das Eintreffen der Polizei in einer komplexen und komplizierten Ausgangssituation nicht als Lösung, sondern als zusätzliche Bedrohung für die anwesenden Personen zu betrachten.
In dieser Analyse der Medienberichterstattung werden unter anderem mehrere Elemente aufgeführt, die von der Polizei oder den Medien vorgebracht wurden, um die Verantwortung der Polizei für den Mord an Nzoy zu vertuschen. Die Medien stellten öffneten viele mögliche Ausrede für den Mord. Zum Beispiel::
- La Tribune de Genève, die in den ersten veröffentlichten Elementen berichtet, dass der Mann beim „Beten“ gesehen worden sei.
- Die systematische Erwähnung eines weiteren Mordes in Morges, der als Gegenfeuer dient, um den polizeilichen Fehler zu vertuschen. Der Redaktor des Journal de Morges und lokale Korrespondent von TXGroup bezeichnet die kleine Waadtländer Stadt als „Halsabschneider“.
- Der Versuch, den Polizeimord in einen Selbstmordversuch von Nzoy umzuwandeln, da laut der Zeitung 20 Minuten „die Hypothese eines Selbstmordes immer mehr an Boden gewinnt“.
- La dissimulation des origines Noires de Nzoy par tous les médias, à l’exception du journal Le Courrier. Aucune mention ni du caractère raciste de ce meurtre, ni du fait que Nzoy est la quatrième personne noires assassinée par la police depuis 2016 par la police vaudoise.Das Verschweigen durch alle Medien, mit Ausnahme der Zeitung Le Courrier, das Nzoy ein schwarzer Man war. Der rassistische Charakter des Mordes wurde ebenso wenig erwähnt wie die Tatsache, dass Nzoy die vierte schwarze Person ist, die seit 2016 von der Waadtländer Polizei ermordet wurde.
- Mehrere Medien betonten, dass sich Nzoy „offenbar ohne Grund“ in Morges aufhielt obwohl er in Zürich lebte.
- Und die Behauptung, Nzoy sei bereits in Zürich polizeibekannt und leide unter psychischen Problemen, wurde überall wiederholt.
Die Presse lieferte also eine ganze Reihe unterschiedlicher und vielfältiger Erklärungen für die Tragödie, mit Ausnahme der Verantwortung der Polizei. Das Opfer leidet an psychischen Störungen, ist Ziellos und verwirrt von Zürich nach Morges gekommen und/oder wollte Selbstmord begehen und hat deshalb den Tod bei der Polizei gesucht und/oder wurde beim Beten gesehen und ist deshalb wahrscheinlich radikalisiert und/oder Morges ist eh eine gefährliche Stadt mit gefährlichen Menschen, da es bereits vor einiger Zeit einen Mord gegeben hat. Auf jeden Fall hat Nzoy den Tod offensichtlich verdient und sich selbst die Schuld daran gegeben. Es macht keinen Sinn, die Notwendigkeit des Schusswaffengebrauchs durch die Polizei in Frage zu stellen, einen dritten Schuss abzugeben, als Nzoy sich wieder aufzurichten versuchte, oder die Rolle seiner Hautfarbe. Auch wurde nichts geschrieben über die alternativen, nicht tödlichen Lösungen die hätten gefunden werden können, wenn andere Akteur*innen eingegriffen hätten.
Am Freitag, 3. September, versammelten sich etwa 150 Personen vor dem Bahnhof von Morges. Nach mehreren Reden setzte sich die Demonstration in Bewegung, um seine Botschaften am Tatort zu verkünden. Die Menschen zogen durch die Straßen von Morges, passierte die Polizeistation und versuchte dann, die Einkaufsstraßen zu erreichen. Auf den Transparenten war zu lesen: „Keine Polizei, keine Polizeimorde„, „Schluss mit der Polizeibrutalität“ und „Die Polizei tötet, die Presse vertuscht, die Justiz deckt„.
Die Polizei hielt sich nach dem Verbrechen ihres Kollegen nicht zurück, sondern zeigte an jeder Straßenecke massive Präsenz. Sie stellten sich auf, um die Demonstrant*innen abzuwehren und griff ohne Vorwarnung an. Die Absicht war, einen belebteren Teil der Stadt zu erreichen, um Traurigkeit und Wut mit der Bevölkerung zu teilen, doch die Menschen, die das führende Transparent hielten, wurden mit Pfefferspray zurückgedrängt. Die Demonstration schaffte es dennoch, zum Bahnhof zurückzukehren.
Schweizer Polizei: Serienmörder von schwarzen Menschen?
Pressemitteilung von CRAN – Carrefour de Réflexion et d’Action Contre le Racisme Anti-Noir, veröffentlicht am 7. September 2021
In ihrer Pressemitteilung kommt der CRAN auf die traurige Tatsache zurück, dass Nzoy die vierte schwarze Person ist, die seit 2016 von der Waadtländer Polizei ermordet wurde und die zehnte schwarze Person, die seit 2001 von der Schweizer Polizei ermordet wurde. Diese Zahlen sind erschreckend, wenn man bedenkt, wie das Justizsystem diese rassistischen Taten deckt. Das jüngste Beispiel ist die Freilassung des Polizeibeamten, der Hervé Bondembe Mandundu ermordet hat. Der mit 35.000 Euro entschädigte Gefreite, der seit dem Mord zum Sergeant aufgestiegen ist, feuerte drei Kugeln in Hervés Körper, von denen zwei tödlich waren. Der Grund: aggressives Verhalten und Drohungen mit einem … Brotmesser.
Unser Bruder, Sohn, Cousin, unser geliebter Freund Nzoy wurde durch drei Schüsse aus einer Polizeiwaffe aus dem Leben gerissen. Dieser Todesfall ist ein weiterer in einer Ganzen Reihe von Morden aufgrund von menschenverachtender, rassistischer Polizeigewalt.
Nzoy-Gedenkmärsche in der Deutschschweiz
Trauermärsche zum Gedenken an Nzoy und an alle Schwarzen und PoC, die auf den Straßen, in Polizeistationen, Gefängnissen, Heimen und Asylunterkünften in der Schweiz durch staatliche Gewalt verletzt und getötet wurden. In Zürich, Bern, Basel und Luzern finden Kundgebungen mit fünfzig bis mehreren hundert Personen statt.
Abschließend möchten wir den Freund*innen und der Familie von Nzoy unser aufrichtiges Beileid aussprechen.
Kein Vergeben, Kein Vergessen
No Justice, no peace