Before we die

Geschrieben von Âama – Ursprünglich auf Englisch verfasst



Selbstmord ist ein Prozess der Selbstzerstörung.

Zum einen, findet er innerlich statt; die Person trennt sich von sich selbst, weil sie glaubt, dass ihre Existenz keinen Sinn oder Wert hat. Dies ist der längste und schwierigste Teil des Selbstmordes, voll von Versuchen, durchzuhalten, von der Suche nach Hoffnung und Verzweiflung.

Nur danach findet die Zerstörung im Äußeren statt, in dem der Mensch schließlich die Verbindung zwischen seinem Körper und der Welt kappt. Alle sind auf dieser Teil der Arbeit fokussiert, die Stimmen der Betroffenen, werden erst in diesem Stadium gehört, das Gesetz zieht Konsequenzen nicht aus der inneren, sondern aus der äußeren Zerstörung und die Statistiken der Staaten zählen nur die äußere Zerstörung. Das ist es, was die Menschen und ihre Tränen mobilisiert, aber das ist nicht, was der Mensch der nicht überlebt hat, gebraucht hätte. Wo war die letzte Stadt, in der er ankam, wann war sein letzter Tag, was war das letzte Urteil, das er ertrug, was war die letzte Herausforderung – das ist nur für die Zurückgebliebenen von Interesse. Es ist der lange Prozess der Selbstzerstörung, der sich vor dem letzten Moment abspielt, der Alireza beschäftigt und mit dem er sich auseinandersetzen muss. Auch wenn es zu einer Zeit geschrieben wird, die für ihn keine Bedeutung mehr hat, möchte ich den Blick auf einen bedeutsamen Punkt lenken und erklären, wie auf den Migrationsrouten, in den Lagern, im Alltag, allmählich eine innere Zerstörung für uns stattfindet und wie wir dazu gebracht werden, zu glauben, dass unsere Existenz keinen Sinn oder Wert hat.

Für einige von uns beginnt die Geschichte dort, wo wir geboren wurden: Alireza wurde in Afghanistan geboren, in einem Land, in dem bei einer Straßenbefragung in der Schweiz, auf die Frage „Würden Sie gerne in diesem Land leben“, niemand mit “Ja” antwortete. Diese Bedingungen, die hier niemand mit seinem eigenen Wert in Verbindung bringt und in denen sich niemand vorstellen kann, zu leben, entsprechen jedoch dem täglichen Leben eines Menschen, der spielt, sich verliebt, träumt, klagt, Blumen züchtet und isst. Wie können wir sagen, dass das menschliche Leben in beiden Regionen den gleichen Wert hat, wenn das, was ein Teil der Welt an einem gewöhnlichen Tag erlebt, in den Augen des anderen Teils der Welt, unvorstellbar schrecklich ist? Vor allem, wenn tonnenweise Geld ausgegeben wurde, um eine Geografie von der anderen mit Mauern, Kanonen, Soldaten, Minen und Todesfallen zu trennen. Angesichts dieser Realität liegt es auf der Hand, dass jeder Mensch, der unter diesen „schrecklichen“ Bedingungen lebt, nicht in gleichem Maße dazu geneigt sein kann, sein Leben für sinnvoll und wertvoll zu halten, wie diejenigen, die in „sicheren Gegenden“ leben.

Ja, für einige von uns beginnt der Prozess der inneren Zerstörung bereits im Mutterleib.

Es wäre ein tröstlicher Trugschluss für die Welt der Privilegierten, zu glauben, dass diese Ungleichheiten zufälliger Natur seien, wie es die Theorien der göttliche Zeugung nahelegen, oder dass sie durch schicksalhaften Umstände aus geografischen Gründen entstanden seien. Nein, die Realität sieht anders aus: Wenn ein Stück des Kuchens der Sicherheit, Frieden und Wert kleiner ist als das andere, dann ist das das Ergebnis vielschichtiger Machtbeziehungen sowie der Gier einiger weniger Menschen. Da sich keine Ressource auf der Welt verflüchtigt, ist es nicht schwer zu erraten, dass auch der Frieden und der Wert, der uns genommen wurde, irgendwo in Hülle und Fülle gespeichert ist! Aus unserem „schrecklichen“ Leben lassen wir alle Erinnerungen, Freundschaften, Familie und Gewohnheiten die wir aufgebaut haben um atmen zu können zurück – also die einzigen Dinge, die unser Leben erträglich gemacht haben -, und stürzen uns in eine Ungewissheit, von der wir wissen, dass sie das Risiko des Todes birgt. Die Person zu sein, die den Hund der Nachbarschaft füttert, die große Schwester für ihren kleinen Bruder zu sein, die Person zu sein, die den Ort kennt, an dem sie lebt, die Nachbarin zu sein, die um Hilfe gebeten wird… alles, was unserer Existenz Sinn und Wert verleiht, verlieren wir als erzwungene Folge der Migration.

Diejenigen von uns, die das Glück haben, den Migrationsweg zu überleben und in wohlhabenden Ländern anzukommen, hoffen, dass die Welt der Wertlosigkeit, in die wir hineingeboren wurden und die uns durch die Migration auf den Hals gehetzt wurde, ein Ende hat und dass unsere Existenz endlich einen gewissen Wert erhält. Sie erwarten dies nicht nur aufgrund der Tatsache, dass die Staaten, die ihnen den Selbstwert gestohlen haben, ihnen ein Leben schulden. Sie erwarten es von den Staaten auch aufgrund der Versprechungen, die diese in internationalen Verträgen und nationalem Recht machen, um sich mit Menschenrechtsstandards zu vermarkten und daraus Gewinne/Investitionen zu machen. Doch was wir in diesen Ländern als Gegenleistung für diese durchaus berechtigte Erwartung vorfinden, ist eine riesige Kluft: die Kluft zwischen der Realität, dass in einer gerechten Ordnung alle Menschen gleichwertig geboren würden und niemand migrieren müsste, und der Realität, dass wir unserer Wertlosigkeit nicht entkommen konnten, obwohl wir alles aufgegeben haben, was wir lieben und Tausende von Todeskilometern zurückgelegt haben. Ein „Fremder“ zu sein, ohne jemals das Gefühl zu haben, dass unsere Existenz sinnvoll und wertvoll ist… Der Glaube, dass es etwas zu gewinnen gibt, wenn man weiterlebt, hängt hier am seidenen Faden.

Selbst wenn das Staatssekretariat für Migration (SEM) alle seine Aufgaben gewissenhaft erfüllt, ausreichende Mittel zur Verfügung stellt, um die Bedürfnisse der Migrant*innen zu befriedigen, und Maßnahmen entwickelt zur Wiedergutmachung aller Schäden und Traumata die wir erlitten haben, wissen wir, dass wir in dieser Gesellschaft mit dem Gewicht all unserer Erfahrungen und Erinnerungen nicht gleichgestellt werden können. Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie viel düsterer das Bild für Migrant:innen ist, wenn das SEM diese Aufgabe nicht erfüllt. Gehen wir noch einen Schritt weiter und stellen wir uns das SEM als eines der größten Hindernisse vor, das sich uns in den Weg stellt, wenn wir nur versuchen zu überleben. Das ist nämlich genau die Position des SEM in unserem Leben. Wir, als überlebende Migrant:innen, leben „trotz“ seiner Politik, und nicht “wegen” der Unterstützung dieser Organisation, nicht einmal dadurch, dass sie uns ignoriert. Neben der historischen und politischen Verantwortung des Schweizer Staates für unser entwertetes Leben verdient er es, zu hören, wie destruktiv er ist, wenn es darum geht, seine Schulden oder Verpflichtungen zu erfüllen. Auch wenn sie sich anderer Mittel bedienen als die Taliban, Erdoğan, Putin oder Assad, vor denen wir geflohen sind, um zu zeigen versuchen, dass es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gibt, verdienen sie es zu hören, dass sie in Bezug auf die Auswirkungen, die sie auf uns haben, genau dasselbe sind.

Wir können nicht in der Ordnung leben, die einer von ihnen aufgestellt hat. Sie alle sagen uns das eine: Eure Existenz ist nicht wertvoll oder sinnvoll.

Vom ersten Tag an, an dem ich Teil des Schweizer Asylsystems werden musste, bis heute war dies der Satz, der mir am häufigsten ins Ohr geflüstert wurde. Ein Versprechen, das mir niemand offen ins Gesicht sagte, niemand mich angeschrienen hat, niemand mir auf den Kopf schlug ; ein Versprechen, das nicht an die Wand geschrieben ist, das nicht per Brief mitgeteilt wird, das Sie nicht in den Vorschriften finden werden, das sich aber in all diesen bemerkbar macht. So wie in meinem Herkunftsland die Polizei gelernt hat, physische Gewalt gegen unsere Körper anzuwenden, ohne Spuren zu hinterlassen, haben sich in der Schweiz die Mitarbeiter:innen und die Politiker:innen der Einwanderungsbehörden darauf spezialisiert, unsere Persönlichkeit/unseren Selbstwert zu zerstören, ohne etwas zu verraten. Ganz im Gegenteil, sie machen das sogar noch mit Höflichkeit. Nicht mit der Aggression eines Diktators, der offen erklärt, dass er die Verfassung nicht anerkennt, sondern mit der Heimtücke einer schwerfälligen Bürokratie, die immer wieder äußerst zweideutige Gesetze gegen uns auslegt. Ich fühlte mich als Individuum gegenüber beiden Staaten gleich wertlos, aber während mein Herkunftsland von vielen Organisationen verurteilt wurde, wurde die Schweiz als Inbegriff von Menschenrechten und Demokratie dargestellt. Was das Schweizer Migrationssystem uns antut, muss viel stärker sichtbar gemacht werden, um die Ursache für so viele Todesfälle und Gräueltaten zu entlarven und zu verhindern, dass wir weiterhin den Mördern applaudieren, die uns so sehr auffressen, dass wir unserem Leben ein Ende setzen.

Ich schreibe dies auch in meiner Trauer um das Leben meiner Freundin, die sich aufgrund der, durch das SEM verursachten Ungewissheit und Zukunftslosigkeit, dazu entschließ, ihre ungeplante Schwangerschaft fortzusetzen. Während der Anhörung zur Beurteilung ihres Asylantrags wurde ihre Befragung mit der Begründung abgebrochen, dass sie die Traumata, die sie in ihrem Herkunftsland erlebt hatte nicht erklären könnte : sie weinte nur. Es war erst ein paar Monate her, dass sie der Verfolgung entkommen war, sie konnte nicht sprechen, so wurde es festgehalten. Ihr wurde gesagt, dass sie ein weiteres Vorstellungsgespräch organisieren und sie sich wieder bei ihr melden würden. Sie sollte nur abwarten. Seit diesem Tag sind zwei Jahre vergangen, sie hat nie einen neuen Termin für ein Vorstellungsgespräch erhalten, man hat ihr nie gesagt, warum es so lange dauert, und man hat ihr auch nichts Sinnvolles gezeigt, was sie in der Zwischenzeit tun könnte. Sie darf nicht zur Schule gehen, sie darf arbeiten, sie darf nicht an einem eigenen Ort leben, sie darf nicht reisen und sie weiß nicht, wie lange ihr Leben so weitergehen wird. Ihr wurde nicht gesagt, sie solle das Land verlassen, aber man gab ihr auch keine Chance hier zu leben. Eines Tages brach das Lagerpersonal in den Raum ein, in dem sie lebte, und sah sie in Schmutz, Staub, verstreuten Kleidern und Lebensmitteln auf dem Boden liegen und dachte, sie sei tot! Als sie dann feststellten, dass sie noch lebte, aber ihre geistige Kraft verloren hatte, verlegten sie sie dringend aus dem Lager an einen anderen Ort. Da ihre Existenz keinen Wert und keinen Sinn hatte, war das Einzige, was sie taten, einen Menschen, der den Bezug zum Leben verlor, wie eine Risiko-Verantwortungs-Bombe zu behandeln, die kurz vor der Explosion stand, und sie aus ihren Händen zu nehmen und auf jemand anderen zu werfen. Als wir uns kürzlich trafen, erzählte sie mir, dass sie jetzt beschlossen hatte, ihre ungeplante Schwangerschaft fortzusetzen, in der Hoffnung, dass dies zu einem besseren Leben führen würde. Während ich sie am ersten Tag, als sie in dem Lager ankam, mit leuchtenden Augen wahrnahm, hatte die Schweizer Migrationspolitik, vor meinen Augen, das Leben dieser jungen Person in zwei Jahren in ein Wrack verwandelt.

Die Orte, an denen wir zu leben gezwungen werden, die Flüchtlingslager, sind vielleicht die deutlichste Manifestation der offiziellen Migrationspolitik. Sie stapeln uns in den entlegensten Teilen der Stadt oder in unterirdischen Bunkern übereinander, und nur zu bestimmten Tageszeiten dürfen wir uns mit dem Leben draußen vermischen. Während dieser Zeit ist es uns verboten, irgendeine Tätigkeit auszuüben. Der Schweizer Staat hat uns so positioniert, als ob er die anderen vor uns, wie vor einer Pestepidemie schützen will, und es ist unmöglich, dies nicht zu erkennen. Was den Wert und die Behandlung angeht, ähnelt das was wir erleben das Schicksal von Tieren : Manchmal wie Zirkusfiguren, die zu einem Spektakel gemacht und beobachtet, manchmal wie Individuen, die hilflos in Zoos eingesperrt sind, und manchmal wie jene in Tierfarmen, die von Kopf bis Fuß ausgebeutet und dann dem Tod überlassen werden.

Die Subjekte unseres Lebens zu sein sowie unsere Individualität, unsere Fähigkeiten und Bedürfnisse sind nicht wichtig. Wir sind nur einen Nummer und eine Kategorie: Asylbewerber:innen. Jeden Morgen gehen wir zur Tafel auf dem Platz, um zu sehen, ob eine neue Entscheidung über unser Leben getroffen wurde war. Wir suchen dort nach unserer Nummer (ja, alle hier haben eine Nummer, zum Glück ist sie nicht an unsere Ohren genagelt) und erfahren, was mit uns geschieht.

Nach der Kategorisierung der Länder, aus denen wir kommen, waren wir Rebellen*innen, Kriegsopfer:innen, Überlebende, Terroristen:innen, Verdammte usw., aber in den Augen des SEM behalten wir nicht einmal diese Stigmata, wir sind nur noch eine Nummer.

Die Sinn- und Wertlosigkeit unserer Existenz wird uns nicht nur durch langfristige allgemeine Strategien aufgezwungen, sondern die Angriffe auf unsere Würde, manifestieren sich häufig im täglichen Leben. Das öffentlichkeitswirksamste, ja theatralischste Beispiel dafür ist in allen Lagern die Zeremonien, bei denen wir unser „Taschengeld“ erhalten, das auf 3 CHF pro Tag festgesetzt ist. Jeden Donnerstag zwischen 8 und 9 Uhr morgens werden alle Bewohner des Lagers sorgfältig in eine Schlange eingereiht, die Person, die an der Reihe ist, begrüßt einen hochrangigen Mitarbeiter des SEM, der mit einer Registrierkasse in der Hand wartet, der SEM-Beamte fragt Hunderte von Menschen mit der gleichen Unsensibilität: „Guten Morgen, wie geht es Ihnen?“, und nach der Antwort, dass es uns gut geht, übergibt er sein Taschengeld. Die Person, die das Geld erhielt, bedankt sich bei den SEM-Mitarbeiter:innen und geht. Diese Zeremonie ist der Moment, in dem Sie zeigen wollen, dass die Mitarbeiter:innen des Camps mit der freundlichsten und sorgfältigsten Art arbeiten. Sie organisieren oft die Warteschlangen, warnen die Person, die nicht weiß, dass sie an der Reihe ist, und leiten die Person, die ihr Geld nimmt, zur Ausgangstür. Die Linie, an der wir warten, an der wir den Saal betreten, an der wir das Geld nehmen und den Saal verlassen, ist fast so präzise, als wäre sie mit Kreide auf den Boden gezeichnet worden. Unter den Tausenden von chaotischen Ereignissen im Lager, ist der Moment der Übergabe des Taschengeldes die makelloseste Zeremonie. Sie erinnerte an ein Theater mit seiner Inszenierung und seinen Bühnenarbeitern, an eine Beziehung zwischen Soldat und Kommandeur in Bezug auf Machtverhältnisse und Salutieren und an eine traditionelle Familienbeziehung zwischen Vater und Kind in Bezug auf die Erwartungen an Dankbarkeit und Respekt. Was es noch interessanter macht, ist die Verpflichtung zur Teilnahme an dieser Zeremonie. Eines Tages, als ich krank war und nicht in der Schlange für das Taschengeld stand, kamen die Beamt:innen in mein Zimmer und sagten mir, ich müsse dorthin gehen.

Es war klar, dass diese ganze Zeremonie nicht organisiert wurde, um uns etwas zu geben, sondern um uns etwas wegzunehmen: Unsere Ehre.

Für den lächerlichen Preis von 3 CHF pro Tag wollten sie uns unsere Persönlichkeit nehmen und sie durch dankbare, beschämte, uniforme, unterwürfige, wertlose Objekte ersetzen. Auf diese Weise legten sie den Grundstein für die Beziehungen, die sie von uns mit dem Schweizer Staat erwarteten.

Wie ist es möglich Tag für Tag die psychische Gesundheit von Migrant*innen vergiften, ohne körperliche Gewalt auszuüben, ohne eine im Strafgesetzbuch definierte Straftat zu begehen, sogar mit einem glänzenden Äußeren, das bei Kontrollen 10/10 Punkte bringt? Die Schweiz scheint in dieser Hinsicht das „how-to“ Buch geschrieben zu haben. Die Politik der Abwertung ist so professionell, dass die Betroffenen Tag für Tag verkümmern, an psychosomatischen Krankheiten litten, am Leben verzweifeln, aber nicht verstehen können, wer die Ursache von dem ist. Wenn Migrant:innen sehen, dass die gleiche erniedrigende Behandlung von Hunderten von Menschen als selbstverständlich angesehen wird, verlieren sie ihr anfängliches Erstaunen und passen sich dem Fluss an. Hunderte von Individuen mussten den gleichen Prozess durchlaufen wie sie selbst und wurden zu „Hunderten von Menschen“. Das ist zum einen das Ergebnis des Überlebensinstinkts, zum anderen wissen wir, dass wir uns in Machtbeziehungen zwangsläufig unterordnen müssen. Wenn man Toilettenpapier braucht, ist es für alle anderen schockierend und demütigend zu erfahren, dass man zum Lagerkiosk gehen, die Papprolle mit dem alten Toilettenpapier zurückgeben und gegen ein neues austauschen muss. Da man aber keine andere Wahl hat, muss man sich daran gewöhnen, mit der fertigen Rolle Toilettenpapier am Kiosk anzustehen. Dieses Bild, nimmt uns Tag für Tag das Bewusstsein für unsere Privatsphäre, unser Selbstwert und unsere Grundrechte. Während wir uns wie ein Nichts fühlen, können wir nicht erkennen, dass ein Grund für dieses Nichts, die leere Klopapierrolle ist, die sie uns tragen lassen. Wir fühlen uns nur am ersten Tag entehrt, die anderen Tage sind wir daran gewöhnt, mit unserem neuen „Wert“ zu leben. Die Schweizer Einwanderungspolitik entwertet uns mit jeder Umsetzung ein wenig mehr und lässt uns glauben, dass wir keinen Wert haben.

Dabei handelt es sich nicht um individuelle Missgeschicke, nachlässige Manager oder ungeregelte Praktiken. Im Gegenteil, es handelt sich in fast allen Lagern um eine sorgfältig geplante, unbestreitbare, allgemeine Politik, die jeweils sorgfältig geplant wurde, um genau dieses Ergebnis zu erzielen. Natürlich gibt es auch Beispiele für Straftaten gegen Migrant:innen, aber ohne auf diese „individuellen“ Ausbrüche einzugehen, möchte ich erläutern, wie selbst legale Praktiken zum Verlust des Selbstwerts eines Menschen und damit zur Selbstzerstörung führen können. Was wir erleben, lässt sich nicht mit technischen Gründen, wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten oder Sicherheitsgründen erklären. Denn wir wissen, dass, wenn aus irgendeinem Grund alle Schweizer Politiker*innen für eine gewisse Zeit im selben Gebäude untergebracht werden müssten, dieses Gebäude und seine Politik von Grund auf so aufgebaut worden wären, dass es dem Wert dieser Politiker:innen gerecht geworden wäre. Der Grund, warum wir all das ertragen müssen, ist der „Wert“, den die Politiker:innen in Tonnen haben und von dem wir nicht einen Prozent bekamen. Daher werde ich weiterhin über die Routine bzw. banale Praktiken im täglichen Leben im Lager sprechen und Sie einladen, sich vorzustellen, was passieren könnte, wenn sie auf Menschen mit „Wert“ angewandt würden. Wenn wir zum Beispiel ein Shampoo, eine Schachtel Zigaretten oder eine Flasche Fruchtsaft mit den 3 CHF kaufen, die sie uns täglich geben, wird von uns erwartet, dass wir beweisen, dass wir es nicht gestohlen haben, dass wir es gekauft haben, indem wir eine Rechnung vorlegen, um es an den Ort bringen zu können, an dem wir leben. Andernfalls werden die nicht fakturierten Produkte als Beweismittel für eine Straftat beschlagnahmt. Dies geschieht nicht heimlich, sondern diese Regel ist in großen Buchstaben am Eingang jedes Lagers angeschrieben. Ich glaube nicht, dass ich vergessen kann, wie ich mich an dem Tag fühlte, als ich eine Stunde lang am Eingang warten musste, bis der Lagerleiter kam und eine Entscheidung in dieser Angelegenheit traf, damit ich die Schuhe, die ich für 5 CHF auf dem Flohmarkt gekauft hatte, einführen konnte. Ich konnte nicht einmal benennen, was ich erlebte, ich wusste nur, dass es etwas war, das sich durch ihr eigenes Gesetz erklären ließ, aber mit meinem Wert als Mensch unvereinbar war.

In den Lagern sind unsere Körper kein Teile von uns, sie sind Monster, die kontrolliert werden müssen. Jeden Tag berühren und durchsuchen sie eine andere Hand. Wenn festgestellt wird, dass unser Körper nicht gesund ist, werden wir gezwungen, uns medizinischen Eingriffen zu unterziehen. Wenn unsere Stauballergie als Covid eingestuft wird, werden wir nicht einmal getestet, sondern direkt zwei Wochen lang unter Quarantäne gestellt. Wenn die Beamt:innen entscheiden, dass unser Körper gesund ist, werden wir ständig mit Hindernissen konfrontiert sein, wenn es darum geht, die von uns benötigte medizinische Versorgung zu erhalten. Die Tatsache, dass wir uns sorgen um die Gesundheit des Babys in unserem Bauch machen oder dass wir nicht essen können, weil wir keine Nahrung erhalten, die unseren ethischen Werten entspricht, sind Probleme, die in den Augen der Politik über den Gesundheitswert der wir verdienen hinausgehen und werden ignoriert.

Wir verstehen schnell, dass alle Maßnahmen, die im Namen der Gesundheit ergriffen werden, nicht darauf abzielen, zu verhindern, dass wir krank werden, sondern darauf, dass wir keine Krankheiten verbreiten.

Wenn wir Orte betreten wollen, an denen Sicherheitskräfte, Sozialarbeiter:innen und Verwaltungsangestellte ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen arbeiten, wird von uns erwartet, dass wir zwangsweise Reinigungsmittel verwenden. Die Materialien, die nur für Migrant:innen bestimmt sind, werden „sorgfältig“ vor Diebstahl geschützt. In den Lagern gibt es immer einen Handschuh, um die Körper der Migrant:innen von denen der Nicht-Migrant:innen zu trennen. Aber dieser Handschuh wird nie gewechselt, dieser Handschuh, den der Wachmann gerade angezogen hat, um die Schuhe von jemandem zu kontrollieren, wird bald danach um einen Hals krabbeln. Die Grenzen zwischen dem, was als schmutzig angesehen wird und was nicht, werden durch die Unterscheidung zwischen denjenigen, die mit Migrant:innen in Verbindung gebracht werden, und denjenigen, die nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden, bestimmt.

Die Beamten des Lagers können jederzeit eine Razzia in unsere Zimmern durchführen, unter den Betten nachsehen, unsere Schränke öffnen, die Mülleimer durchwühlen und nach Beweisen für ein Verbrechen suchen. Einmal, während einer Durchsuchung, als ich krank im Bett lag, kam eine Angestellte auf mich zu, berührte mein Gesicht mit demselben Handschuh, mit dem sie gerade den Müll durchwühlt hatte, und prüfte, ob ich Fieber hatte. Sie tat dies nicht in der Absicht, mir zu schaden, oder im Bewusstsein ihres Verhaltens, es geschah automatisch, sogar in gutem Glauben, was viel erniedrigender war. Es richtete sich nicht einmal gegen mich als Person, denn, ich hatte nicht einmal eine eigene Persönlichkeit, um mich von anderen zu unterscheiden. Sie tat es mit der Wertlosigkeit, die mir als „Flüchtling“ automatisch zugeschrieben wird. Mit größter Selbstverständlichkeit kam ihr nie in den Sinn, dass es einen Unterschied zwischen dem Hygienebedarf meines Gesichts und dem Hygieneniveau des Mülleimers geben könnte. Aber natürlich hatte sie den Reflex, ihres eigenes Gesicht vor diesem Handschuh zu schützen, wenn sie es berühren wollte. Was alle in ihrem Herzen wussten, aber nicht darüber sprechen durften, kam durch dieses unwillkürliche Verhalten an die Oberfläche : Wir sind nicht nur für die Leitung des SEM in Bern wertlos, sondern auch für die am schlechtesten bezahlten Angestellten auf ihrer Hierarchieleiter.

Die Warnschilder, denen wir begegnen, und was sie uns damit kommunizieren wollen, verdienen eine eingehende Analyse. Sie sind allesamt unaufrichtig und mit Begründungen versehen, die sich leicht auf den Schild des guten Willens heften und angesichts der ersten kritischen Bemerkung rechtfertigen lassen. Darin liegt die Schwere dessen, was wir jetzt schon erleben: Durch ihr professionelles Verhalten, untergraben sie unser Selbstwertgefühl Tag für Tag, über einen längeren Zeitraum hinweg, aber sie werden nie zugeben, was sie eigentlich tun. Auf diese Weise wird die Gewalt, die wir erleben, nicht anerkannt, und wir werden auch nicht mit einer wiederherstellenden Entschuldigung begrüßt; es wird uns fast unmöglich sein zu erkennen, dass das Gefühl der Wertlosigkeit nicht in uns steckt, sondern uns vom Staat eingeimpft wird. In den Toiletten der SEM-Zentren hängen Warnschilder, die in keiner Universität, keinem Amt, keiner Gemeinde zu finden sind. Wenn wir nach dem Grund dafür fragen, rechtfertigt sich mehr oder weniger jede:r Mitarbeiter:in auf ähnliche Weise, indem er:sie uns, Flüchtlinge, sanft beleidigt. In verschiedenen Kantonen, in verschiedenen Lagern, wären sie erstaunt zu sehen, wie jede:r Mitarbeiter:in die gleichen Antworten gibt, als hätten sie alle den gleichen Kurs besucht. Aber genau das ist auch der Fall: Sie alle haben ihre Lehren aus der staatlichen Politik gezogen und arbeiten gemeinsam an der Umsetzung der staatlichen Weisheit. Lustige, drohende, didaktische… Warnschilder werden zu unterschiedlichen Themen ausgesprochen, aber jedes Mal manifestiert sich das asymmetrische Machtverhältnis, zwischen dem Autor des Schild und dem Publikum. Aus diesem Grund ist es notwendig, nicht nur zu sehen, was die Autorität auf der anderen Seite zu „kommunizieren“ versucht, sondern auch, welches Gefühl sie mit dem von ihr verwendeten Mittel in uns hervorrufen will. Das Schild, das uns bittet das Lager nicht mit schlammigen Schuhen zu betreten, erfolgt beispielsweise durch ein Bild das am Eingang aufgehängt wird, der schlammigen Schuhe eines Kindes, das in diesem Lager lebt. Dies ist ein sehr genaues Beispiel davon, wie sich die offizielle Migrationspolitik auf uns bezieht. Was dieses Kind jedes Mal fühlt, wenn es durch die Tür geht, ist das, was das SEM möchte, dass wir jeden Moment, den wir in diesem Land sind, fühlen. Das Ziel ist nicht, eine saubere Ort zu schaffen, sondern diese gewünschte Ordnung auf unserem Schamgefühl aufzubauen.

Die Schweizer Asyl-Administration gibt nichts, wenn sie nicht sicher ist, dass sie im Gegenzug mehr bekommt. Die Verteilung des zugewiesenen Budgets basiert nicht auf Bedürfnissen, sondern auf dem Wunsch nach einer Investition, die sich in der Zukunft auszahlt.

Der Staat umgibt ein kleines Kind, als wolle er es von seiner Familie isolieren, da es eine Ressource darstellt, die nicht verpasst werden darf. Der Staat hat die Mittel und das Recht, es vollständig in sein System zu integrieren. Es ist sehr profitabel, dauerhafte Dankbarkeit zu schaffen, indem der Staat dem Kind glauben macht, dass es ihm große Chancen bietet, die es nicht verdient.

Die Ressourcen, die behinderten, älteren oder antiautoritären Migrant:innen zugewiesen werden, die nicht als Teil der Arbeitskraft und des Propaganda-Schaufensters des Landes betrachtet werden, sind jedoch immer in Gefahr, da sie nicht in Profit umgewandelt werden können.

In jedem Fall werden diese begrenzten Ressourcen von einer Institution zur anderen transferiert, ohne dass die Migrant:innen sie anfassen oder frei über ihre Verwaltung entscheiden können. Doch während das Geld zwischen den staatlichen Institutionen zirkuliert, ohne sie jemals zu verlassen, verlangt der Staat, dass er eine Rendite für einen Preis erhält, den er nie bezahlt hat.

Die Sprachkurse, zu denen wir zwangsweise geschickt werden, sind ein klares Beispiel dafür. Wenn wir analysieren, wer die Kurse organisiert und wie die Kurse für Migrant:innen aussehen, werden wir feststellen, dass der Staat und nicht die Migrant:innen davon profitieren. Die Kurse werden von staatlichen Unternehmen durchgeführt, die für das SEM arbeiten; für jede:n Student:inn nimmt der Staat Geld aus einer Tasche und steckt es sich in eine andere, während wir Migrant:innen für die Show zur Kasse gebeten werden. In der Zwischenzeit ist die Ausbildung, die wir erhalten, keineswegs förderlich für die Entwicklung von Sprachkenntnissen. Diese Schulungen ermöglichen es uns, die offizielle Kommunikation, die uns gegeben wird, zu verstehen, der Polizei zu danken, wenn sie uns nach unserem Ausweis fragt, die Anweisungen, die uns gegeben werden, sofort auszuführen und eines Tages zum Schalter zu gehen, um unsere Steuern zu bezahlen. Trotz all dieser Inszenierung wird von uns erwartet, dass wir dem SEM dankbar sind, dass es uns diese Ressourcen zuteilt. Mit dieser Absicht besuchte eine SEM-Verwaltungsbeamtin unsere Klasse und verbrachte eine Stunde damit, uns zu erzählen, was für glückliche Opfer wir sind, die die Möglichkeit haben, diese Kurse zu besuchen. Als sie vor Dutzenden von Menschen auf die Tafel schrieb, wie viel Geld für diese Kurse bezahlt wird, kamm ihr nicht einmal in den Sinn, dass wir genug „Wert“ haben, um die Unverschämtheit dieser Sache zu begreifen. Aber sie hat sich geirrt, die Wertlosen haben diesen Moment verewigt und werden sie zur Rechenschaft ziehen:

– Kinder, bezahlt ihr für diese Kurse?
– Nein, Madame.
– Und wissen sie, wie viel diese Kurse pro Monat kosten?
– Nein, Madame.
– Dann passt gut auf, ich schreibe es an die Tafel.
– Was glauben Sie, wer das bezahlt? Raten sie mal.
– Staat, SEM, CARITAS, ORS, Kanton….?
– Nein, nein, ihr wisst es nicht. wir als Bürger:innen zahlen dieses Geld. Ihr kommen mit unseren Steuern hierher.
– …
-Wissen sie, was eine Steuer ist? Das wissen Sie ? Gut, vergessen sie das nicht.

Da selbst die am besten gemeinten und durchdachtesten Aktionen, die vom Staat „zugunsten der Flüchtlinge“ beschlossen werden, auf der offiziellen Annahme basieren, dass wir wertlose Menschen sind, verwandeln sie sich unweigerlich alle in Aktionen „gegen die Flüchtlinge“.

Aber was wir in unserem Leben in der Schweiz erlebt haben, ist viel mehr als dieser von der Staatsräson geschaffene obligatorische Kausalzusammenhang. Die Tatsache, dass sie uns an bestimmten Tagen im Jahr mit Polizeibegleitung durch die Straßen führen, um uns beizubringen, wie man auf der Straße geht und die Straße überquert, kann nicht so interpretiert werden, dass sie von einem guten Willen ausgehen, der jedoch ungeschickt in die Tat umgesetzt wurde. Denn es ist ganz offensichtlich, wie weit dieser schändliche Marsch, der unter dem Namen „Bildung“ organisiert wird und an dem die Teilnahme verpflichtend ist, vom täglichen Leben der Menschen in diesem Land entfernt ist. Das zeigt sich daran, dass die Anwohner:innen uns von ihren Balkonen aus beobachteten, als wären wir Teil eines Zirkus, während wir unter Stress versuchen, von einem Ort zum anderen zu laufen ohne uns gegenseitig anzurempeln. Wir sind uns bewusst, dass niemand, der dies organisiert, leitet, beaufsichtigt oder kontrolliert, sich denken könnte, sich selbst in dieser Lage zu sehen. So gehen wir bis auf wenige Meter an sie heran, in einer Entfernung, in der uns der Wertunterschied zwischen uns ins Gesicht schlägt. Wir sind gezwungen, dieses Spektakel der Abwertung zu verdauen. Weil wir befürchten, dass die endlose Reihe von Ursachen und Konsequenzen, wenn wir etwas nicht tun, was uns als obligatorisch erklärt wird, dazu führen könnte, dass wir in die Länder zurückgeschickt werden, in denen wir traumatisiert und verfolgt wurden. Ohne Ausnahme muss jede:r Migrant:in sein Leben mehr oder weniger im Schatten dieser Angst aufbauen. Solange diese Angst besteht, spielt es keine Rolle, ob sie realistisch, übertrieben, ignoriert, möglich, unrechtmäßig, feige, irrational usw. ist. Für eine Person, die ihren Lebensort verlassen musste, schafft das Wissen, dass diese Möglichkeit auf die eine oder andere Weise besteht, einen unüberbrückbaren Unterschied in der Würde gegenüber einer Person, die diese Möglichkeit nicht erlebt. Solange das Schwert der „Rückführung“ über uns schwebt, werden wir niemals den „Wert“ spüren können, der uns vor der Selbstzerstörung schützt. Als erster Schritt zur Wiedererlangung unserer enteigneten Würde muss das System der „Rückführung“ sofort abgeschafft werden.

Große Hände, die uns von einem Ort zum anderen tragen und uns am Kopf packen, als wären wir die Figuren in einem Spiel. Ein Staat, der eine Linie um eine Region zieht und uns sagt, dass wir hier nicht leben können, obwohl wir ein natürlicher Teil der Welt sind, der uns zu Objekten macht, zu einem Paket mit der Aufschrift Absender Schweiz und Empfänger Griechenland. Die Institution-leitenden haben die Macht, unsere Verbindungen zu dem Land, in dem wir was neu aufgebaut haben, für immer zu kappen.

Ich spreche hier von etwas, das unerträglich ist und das sie überfordert: Wir werden in Länder zurückgeschickt, in denen wir Traumata erlitten haben, in denen diese Traumata ignoriert werden und in denen niemand die Absicht hat, sie zu beheben. Um es noch deutlicher zu sagen: Man schickt uns zurück zu den Verfolgungen, denen wir ausgesetzt waren und denen wir erfolgreich entkommen sind. Griechenland, Kroatien, Slowenien … Für viele Migrant:innen sind dies nicht nur Namen von Ländern. Es sind Länder, in denen wir aufgefordert werden, in ihren Flüssen zu ertrinken und in ihren Wäldern zu erfrieren; in denen wir in offiziellen Gebieten geschlagen, in inoffiziellen Gebieten bestohlen und an abgelegenen Orten ausgesetzt werden; in denen all dies zur Staatspolitik wird und nicht bestraft wird. Wir haben sogar das Privileg verloren, ohne Schaudern über diese Länder sprechen zu können. Viele meiner Freund:innen sagen mir, dass sie, selbst wenn sie eines Tages die Schweizer Staatsbürgerschaft, Sicherheitsgarantien und wirtschaftliche Chancen erhalten würden, nicht einmal für einen Urlaub nach Griechenland reisen könnten.

Angesichts dieser Informationen weiß ich, wie verheerend es war, dem 18-jährigen Alireza, der als Kind vor dem Krieg in Afghanistan fliehen konnte, sexuelle Gewalt in einem Lager in Griechenland überlebte, die Schweiz erreichte und hier sein Leben (neu) aufbauen konnte, zu sagen: „Du wirst jetzt in Griechenland leben“. Diejenigen, die ihm diese Entscheidung abgenommen haben, wussten das auch.

Alireza setzte seinem Leben am 30 November 2022 in Genf ein Ende, unmittelbar nachdem das Schweizer Bundesverwaltungsgericht ihm die Entscheidung mitgeteilt hatte. Das Gericht und das SEM wussten aufgrund der medizinischen Berichte, dass die Entscheidung, ihn zurückzuschicken, ihn das Leben kosten könnte. Nach seinem Tod stellte Anne Césard, Pressesprecherin des SEM, in einer schamlosen Erklärung die kriminelle Organisation, die Alireza getötet hatte, und die Einwanderungspolitik der Schweiz perfekt dar: „Das Selbstmordrisiko ist kein Hindernis für die Entscheidung, ihn zurückzuschicken, wenn das der Fall gewesen wäre, hätten wir niemanden zurückschicken können. Das Verfahren war gesetzeskonform“ (https://www.rts.ch/play/tv/redirect/detail/13601652). Es gab Berichte, öffentliche Debatten und Proteste; die Entscheidung wurde verurteilt, man versuchte, ihr die Schuld zu geben. Einige waren empört, andere traurig. Während all dieser Zeit, als die Öffentlichkeit endlich erkannte, dass er ein Mensch war und etwas wert war, war Alireza nicht mehr da. In einem Moment, der für ihn keine Bedeutung mehr hatte, erklärten viele Politiker:innen plötzlich, dass ihnen Alireza leid tue.

Dennoch schien sein Abenteuer, dem Wert nachzujagen, der ihm vom Tag seiner Geburt bis zum Tag seines Todes gestohlen worden war, für niemanden traurig genug zu sein. Genau aus diesem Grund und trotz der Hunderte von schrecklichen Politiker:innen, der Einwanderungspolitik und der Fremdenfeindlichkeit, die Alireza seit seiner Ankunft in der Schweiz abgewertet haben, müssen wir uns mit aller Kraft dagegen wehren, dass alle ihre Augen auf den letzten Moment des Selbstmords richten, den letzten Moment, in dem die Verantwortungsbombe gezündet wurde. Es war eine kollektive, langwierige Anstrengung, die Alireza Tag für Tag unterdrückte, ihn entmutigte und verzweifeln ließ. Die Art und Weise, wie er gelebt hat, sollte genauso interessant sein wie die Art und Weise, wie er gestorben ist.

Wir sind Migrant:innen, die es trotz der systematischen Zerstörung unseres Selbstwertgefühls durch die Schweizer Politik geschafft haben, heute zu überleben, aber wir sind nicht weit von dem Abgrund entfernt, in den Alireza getrieben wurde. Wir sind Menschen, die aufgrund des Ortes, an dem wir geboren wurden oder von wo aus wir migriert sind, gezwungen sind, auf der Linie zwischen Leben und Tod zu tanzen. Wenn wir nicht sterben, können wir dennoch nicht so leben, wie wir es verdienen. Trotz des Dynamit, das überall in unserem Alltag platziert wurde, gelingt es uns, mit unseren eigenen Ressourcen, Werkzeugen, Freund:innen und unserer Solidarität zu überleben. Wenn Selbstmord ein Prozess der Selbstzerstörung ist, verwandelt sich das Überleben für uns in einen Akt des Widerstands und der Solidarität. Unsere beste Verteidigungswaffe in dieser Situation, in der wir uns unfreiwillig befinden, besteht darin, im klaren zu sein das „Unser Wert darin liegt dass wir existieren, keine Autorität kann ihn uns geben oder nehmen.“ Dies zu glauben und zu verinnerlichen ist unter den Bedingungen, in die wir gedrängt werden, nicht einfach. Als einen Schritt in diese Richtung lade ich uns ein, laut zu sprechen und über dieses Netzwerk zu veröffentlichen, was uns bevorsteht und was wir verdienen, bevor wir uns hilflos und wertlos fühlen. Stärken wir unser Vertrauen, dass unsere Existenz wertvoll ist, und richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unser Leben, um die Meldung eines weiteren Todesfalls zu verhindern.

Sprechen wir, schreien wir unseren Wert gegen diejenigen heraus, die versuchen, uns zu entwerten. Lassen Sie uns gesehen werden, bevor wir sterben. beforewedie@riseup.net