Epectase #5

Seit zwei Jahren und sechs Monaten geht die Zeitschrift Epectase nun ihren Weg. Dies ist die fünfte Ausgabe. Diese viersprachige Ausgabe enthält Beiträge von 9 verschiedenen Personen aus 6 verschiedenen Ländern.

Epectase entstand aus dem Wunsch heraus, verschiedene Ansätze, Reflexionen und Visionen rund um Erotik zusammenzuführen. Eine wilde Erotik, die sich nicht in Normen, Etiketten oder moralischen Urteilen einsperren lässt. Eine Erotik, die versucht, sich von unterdrückenden Mustern und Autoritätspositionen zu emanzipieren.

Dank des Enthusiasmus und der Unterstützung mehrerer Menschen erscheint Epectase nun auch auf Italienisch. Hier noch mal das Konzept: Beiträge können in jeder beliebigen Sprache eingereicht werden und werden dann ins Französische, Deutsche, Englische und nun auch ins Italienische übersetzt. Die Originalsprachen werden in der gedruckten Version abgedruckt, und die Übersetzungen werden hier auf unsere Webseite veröffentlicht. Einzig die Gedichte werden nicht übersetzt.

Im Folgenden finden Sie die deutschen Übersetzungen:

Eine Hand gleitet zwischen die Beine des Schicksals

Text von Carmine Mangone / Collage von Alberto Sipione

Ich erinnere mich an die erste Zeit. Deine roten und schwarzen Dessous, aufreizend. Für mich war es, als würde ich dich nur in Anarchie gekleidet sehen. Die Welt, die wir kannten, fand ihre Subversion in diesem Zimmer, in diesem nunmehr weltlosen Raum, zu dem uns die Faszination einer Schwelle, eines Transits zog. Du und ich, Öffnungen zu einem Körper, im Fleisch, das schmilzt und sich neu zusammensetzt, um neue Wahrheiten herum. Aber es gelingt uns nicht, den Charakter der Körper, unserer Körper, zu erfassen, wenn wir sie als bloße Darstellung eines außergewöhnlichen Ereignisses sehen, das stattgefunden hat und das wir zu berichten versuchen. Liebe ist nicht das Verhältnis von diesem Ereignis, sondern das Ereignis selbst, seine Annäherung, der unaufhörlich wiederholte gemeinsame Ort, die kommende und doch schon vorhandene Erfahrung in der Erzählung, die wir verschweigen, die stirbt, bevor sie überhaupt geboren wird, die ihre zukünftige mittels Erfüllung mittels Verführung vorbereitet, die da in all unserer Macht ist, vorbereitet. Liebe kann nicht erzählt werden, die Liebe kann in der Macht, der Person die sie erzählt, nur verloren gehen. Was könnte gezähmt werden? Welche Sehnsucht nach dem Fleisch könnte das Asyl von Körper in einer Erzählung rechtfertigen?

Die Götter haben die Körperlichkeit immer beneidet, sie haben immer versucht, die Liebe zu entkörpern, um sie zu entschärfen und auf Vorschriften, auf Liturgien zu reduzieren. Als sie ihre weltgewandte Dimension verließen, verkörperten sie sich oft, um eine anarchistische, ungeduldige Menschheit zu begehren oder zu erlösen. Aber kein Gott leistet im Fleisch Widerstand, kein Gott ist stark genug, um durch seine erdische Inkarnation für immer zu sterben

Ich fand dich hinreißend, wenn du die Freude deiner Genitalien zwischen den gezackten Stickereien der Scham manifestiert hast. Du gabst meiner Vorstellung von Wahrheit eine einfache und unmittelbare Definition. Das Fleisch, das ich berührte, erfüllte und hütete diese Idee, so stark wie ich dich liebte. Ich konnte dich nicht in einer einzigen Idee fassen. Deine Gegenwart war das Lächeln eines ganzen Körpers, die Freude einer Materie, die mit den Lippen jeden deiner Wünsche anlächelte. Kannst du es mir verübeln, dass ich die Wahrheit zwischen den Falten deiner fleischlichen Intelligenz suchen will? Ich reduziere dich nicht auf ihr Inneres und mache sie nicht zum Glaubensgrundsatz.

Du sagst mir, dass es die Wahrheit, von der ich spreche, nicht gibt. Aber du irrst dich. Diese Wahrheit existiert und wird jeden Tag in dem Stromfluss von Kontakten und Gedanken, der uns verbindet, neu kombiniert. Nur dieser Fluss konkretisiert und vernarbt de Welt, die sich zwischen uns auftut.

Manche Menschen schreiben und glauben, dass sie etwas mitteilen. Manche halten sich für Dichter:innen. Ich kommuniziere nichts ; ich versuche nur, mein Leben zu leben – und ich versuche, mir deines zu machen. Ich finde es schon schwierig genug, ein Mensch zu bleiben, ohne sich selbst gegenüber pedantisch zu werden. Und dann soll ich mich auch noch mit Ihren Zweifeln belasten? – Mein Zweifel sind Sie.

Reise eines Sex-Enthusiasten

Von Apelio

Die meisten meiner Freund:innen kennen nicht einmal die Hälfte der folgenden Fakten.

Anonym soll es sein.

Schreiben. Das ist eigentlich nicht mein Ding. Es ist aber das Ding meiner Mutter. Ich zeichne, sie schreibt.

Aber ich nehme an, wenn ich mir nicht erlaube Dinge zu sagen, gehen mir die Worte aus. Und jetzt muss ich sie mir zurückholen. Auch wenn ich gelesen werde? Das ist beängstigend.

TW: Vergewaltigung.

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich Sex immer geliebt.

Oder vielleicht wäre es zutreffender und gesellschaftsfähiger zu sagen: „Ich war schon immer von der Freude des Körpers angezogen“.

Ich erinnere mich, dass ich schon früh mit der Masturbation begonnen habe. Als ich 6 oder 7 war. Spreizte mich und bumste auf Stahltoren. Spannte meine gesamte Muskulatur an, bis ich eine Art Erlösung fand. Damals wusste ich noch nicht, wie es genannt wurde… Pflegte zu sagen, dass ich meine Genitalien « etwas gut tat ». Hatte das Glück, dass meine Eltern eine reflektierte Haltung darüber hatten und es nicht verboten oder verteufelt haben. Sie haben mir nur beigebracht, wie man mit der Privatsphäre umgeht und dass ich aufpassen muss, es nicht überall zu tun.

Ich erinnere mich an Pop-ups, die auf dem Computer meiner Eltern erschienen. Hentais. Tentakel. Schwänze. Muschis. Flüssigkeiten. Jede Menge davon.

Ich erinnere mich, dass mein großer Bruder und ich das Gespräch führten. Er hatte das Gefühl, dass er selbst nicht genug wusste, bevor er in die sekundär-Schule kam, und wollte nicht, dass ich dasselbe Mobbing wie er erlebte. Also gab er mir einen sicheren Raum und beantwortete meine Fragen. – Das half allerdings nicht gegen das Mobbing.

Ich erinnere mich an Geburtstagsfeiern. Wir sprachen über Jungs. Wir sprachen über Zungenküsse. Dann wurde geübt. Ich, auf einem Stuhl sitzend, während meine Freundinnen abwechselnd ihre Lippen auf meine drückten. Bis eine mutig wurde und ihre Zunge in meinen Mund steckte… Bis alle anderen es ihr nachmachten.

Ich weiß noch, wie ich mit meinem besten Freund zu Hause gespielt habe. Wir spielten das Ehepaar. Küssen. Lecken. Saugen. Bumsen. Wenn ich zurückdenke, eigentlich mein erster Geschlechtsverkehr. War gerade mal zehn Jahre alt.

Ich erinnere mich an Übernachtungen bei Freund:innen. Abende auf Rollcam-Websites verbracht. Mit Leuten gechattet. Manchmal auf Kerle stoßen, die sich masturbierte. Neidisch. Neugierig. Begierig darauf, sie zur Ejakulation zu bringen und zu zusehen.

Ich erinnere mich, wie ich wieder masturbierte. Wollte spüren, wie etwas in mich eindringt. Stifte. Haarbürstengriffe. In Zellophan eingewickeltes Gemüse. uchh

Ich erinnere mich an Sexting mit Crushes. Oder mit Fremden.

Ich erinnere mich daran, wie ich mit 14 zum ersten Mal von einem echten Penis penetriert wurde, mit meinem ein Jahr älteren Freund, nach einem Monat Beziehung. Mit ihm im Bett zu kuscheln. Wollte ihn. Fühlte mich geil. Ein Cousin hatte mir gesagt, ich solle noch warten.Scheiß drauf“ denken und blasen, bis ich – endlich – Sperma schmeckte. Seine Augen die mich ansahen, als wäre ich göttlich. Seine Worte, mit denen er mich fragte, ob das wirklich mein erstes Mal war.

Ich erinnere mich an Sexgespräche mit Freund:innen in den Pausen der hoch-Schule. War voll dabei. Wollte mehr lernen. Mehr. Immer mehr.

Ich erinnere mich an meinen Sexfreund, als ich 18 wurde. Ein erfolgreicher Unternehmer, 9 Jahre älter. Fit. Sexy. Ein Plot wie aus einem Liebesroman für Teenager. Besänftigend und ruhig, aber auch ziemlich frech und dominant. Serviert mir Wein. Namm mich in seinem Auto mit, um den Sonnenuntergang auf einem Hügel zu beobachten. Dringt in mich ein, im Garten. In der Hängematte. Auf dem Tisch. Auf der Couch. Auf dem Bett. In der Badewanne. Weckt mich mitten in der Nacht um mich zu ficken. Mit seinen Fingern, seinen Händen, seinem Schwanz. Die heißeste Beziehung, die ich je hatte. Ich werde immer noch feucht, wenn ich daran denke.

Ich erinnere mich, dass als Bachelor war, einen neuen Sexfreund hatte, 14 Jahre älter. Vergewaltigt wurde. Ohne zu wissen, dass es eine Vergewaltigung war. In den Arsch. Vielleicht habe ich nicht laut genug „Nein“ gesagt. „Es war nur ein Experiment, das schief gegangen ist, das kommt vor“. Oder vielleicht bin ich nur eine Schlampe, die keinen Respekt verdient. Aber nein. Ich liebe Sex und ich verdiene Respekt.

Ich erinnere mich, dass ich ein paar Jahre später Google nach Dingen wie „rough Sex“ und „bestialischer Sex“ fragte. Versuchte herauszufinden, was mir Spaß macht. Entdeckte BDSM. Nahm Kontakt zu anderen auf. Meldete mich bei FetLife an. Chatten. Über Safewords und SSC lernen. Sich treffen. Neue Kinks finden. Meinen ersten Dom haben. Gefesselt werden. Sogar aufgehängt. Ausgepeitscht werden. Mit Klingen, Kerzen, Ketten und Kabeln spielen. Selbstlosigkeit lernen. Weinen vor Erregung. Lernen, wie sich ein Subraum anfühlt. Glückseligkeit.

Ich erinnere mich, dass ich switchen wollte. Wollte versuchen, zu dominieren. Aber ich fand nicht den richtigen Partner, mit dem ich spielen konnte.

Ich erinnere mich daran, dass ich meinen Körper live vor der Kamera entblößen wollte. Habe zwei Shows auf Chaturbate gemacht und dann aufgegeben. Peinlich.

Ich erinnere mich, dass ich ein Escort sein wollte. Erstellte eine Website, schrieb Nachrichten in gruseligen Blogs. 150 Rosen pro Stunde. Mailen. Bilder verschicken. Einen Termin bekommen. Sich bekleiden. Make-up und Absätze anziehen. Zu der Adresse gehen. Dann vor der Tür umdrehen und alles löschen. Bei einer:einem Freund:in übernachten, die ganze Nacht reden und ein bisschen weinen. Nicht nur, weil ich Angst hatte, sondern auch, weil ich das, worauf ich mich eigentlich gefreut hatte, nicht durchziehen konnte.

Ich erinnere mich, einen neuen Freund gefunden zu haben, in eine andere Stadt gezogen zu sein, BDSM aufgegeben zu haben. Gefühle des Entzugs.

Später dann.

Ich erinnere mich, dass ich alle und jeden liebte und meine sexuelle Orientierung nie wirklich in Frage gestellt habe. Aber jetzt stelle ich meine Geschlechtsidentität in Frage. Hinterfrage mein gesamtes Sexualleben und jedes Gefühl, das ich je hatte. Denke über meine Sexualität nach. Realisieren, wer ich bin. Trans. Transmasc. Nicht binär.

Ich erinnere mich, dass ich Flashbacks von der Pubertät hatte. Fühlte mich wie ein Fremder in meinem Körper. Ihn mit Tränen in den Augen ansehen. An das verstörende Gemälde der Heiligen Agatha denken, das ich einmal auf einem Schulausflug in einem Museum gesehen habe. Wunden auf meiner Haut. Als würde ich versuchen, mein wahres Ich aus der Schale zu ziehen. Leere. Verzweiflung. Kein Sex mehr für mich. Nie wieder.

Ich erinnere mich an die Entscheidung, der Transition. Mein Coming-out. Dysphorie. Immer noch Wunden. Mein Körper verändern. T-Spritzen nehmen. Eine pro Monat. Stimme verändert sich. Euphorie. Mehr Körperbehaarung. Zweifeln. Sexualtrieb höher als je zuvor. Verabredungen mit meinen Sextoys. Zwei. Drei. Viermal. Fünfmal am Tag. Ausgelaugt.

Ich weiß noch, wie ich nach einer Party Vanilla-Sex hatte. Mit einem cishet-Mann. Meinem bester Freund. Einem Verbündeten. Aber ein Cishet. Das sollte mein zweites erstes Mal sein. Als ich. Aber ich fühlte mich nicht ganz wie mich selber. Ängste. Dysphorie.

Was will ich eigentlich?

Was will ich wirklich?

Ich erinnere mich, dass ich Sex mit einem Partner haben wollte.

Mit mehreren Partner:innen.

Fantasien zu haben.

Extreme Fantasien.

Sie als Geheimnisse zu verbergen.

Wollte begehrt werden.

Ich, nicht der weiblich aussehende Fleischsack.

Aber hasste es, berührt zu werden.

Gesehen zu werden.

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Aber ich will gesehen werden. Mein wahres Ich, meine ich. Ich will weiter experimentieren. Ich will mich in Spasmen, Säften und Freude ertränken. Ich will das Sexleben haben, das ich mir wünsche. Ich will mir das zurückholen, was mir rechtmäßig gehört. Meine Freude. Meine Schuldlosigkeit. Meine Offenheit. Ich will aufhören, Angst zu haben, all diese Dinge zu sagen, die ich brauche. Was ich mir wünsche. Ich möchte, dass sich meine Kehle räuspert. Und dass die Worte frei herauskommen.

Nur dann,

werden wir beide wissen,

wer ich wirklich bin:

Ein stolzer Sex-Enthusiast.